Mein Großvater und der selige Kaiser Karl

Ich bekam von meiner Stiefmutter Friedl eine Urkunde meines väterlichen Großvaters Berthold. Im März 1918 wurde ihm von unserem letzten Kaiser die „Kaiser Karl Erinnerungsmedaille“ für seine Dienste im Feld verliehen. Dabei wurde ihm ein diesbezüglicher Laufzettl mit dem Beschluss der Ehrung im Felde ausgefolgt. Im Herbst 1918, nach der Kapitulation der kaiserlichen Truppen, dem Zerfall des mitteleuropäischen Weltreichs, in einer Zeit des Hungers, Elends und der grassierenden spanischen Grippe – in dieser Zeit des Elends bekam er seine Urkunde. Keine Medaille. Quer über dem Schriftstück aus vornehmem Papier war ein Stempel aufgeprägt: „Verleihung unterbleibt, wegen Auflösung der Armee.“

Ich bin Beamter aus Leidenschaft, gehorsamster Diener des Ärar, kommunistischer Monarchist, innerer Schüler des unerreichten und unerreichbaren Josef Roth, Liebhaber jedweden Akts – und dennoch: wie kann man sich einen Beamten im Kriegsministerium am Stubenring vorstellen, der nach der Niederlage, nach der Auflösung einer Welt die jahrhundertelang bestanden hat und unwiderruflich hinweggefegt wurde, stempelt? Wie kann man sich einen Beamten vorstellen, der so einen Stempel nach dem 8. Mai 1918 in Auftrag gibt? Vielleicht waren die Urkunden bereits seit der Verleihung durch seine hochwohlgeborene, apostolische Majestät ausgefertigt, gegengezeichnet, gedruckt und nochmals kontrolliert worden. Es wurde nur mehr auf die Veranstaltung, den Aufmarsch, den Zapfenstreich, den Besuch Seiner Majestät in der Kaserne der Heimgekommenen gewartet, um die Fronsoldaten zu ehren. Wahrscheinlich wäre die Erinnerungsmedaille nicht die höchste Auszeichnung gewesen. Vielleicht hätte ein Offizier den Maria Theresia Orden bekommen, oder es wäre in einer Eucharistiefeier der Orden des heiligen Sebastian verliehen worden, vielleicht wären auch noch andere Auszeichnungen verliehen worden. Mag sein, dass die Zugsführer und Feldwebel die Medaillen vor dem feierlichen Akt ausgegeben hätten und Kaiser Karl lediglich den Gruß der Kolonen entgegengenommen hätte, oder dass die Soldaten am Kaiser Franz-Josefs Bahnhof mit den kupfernen Münzen am Dreiecksband auf denen das Konterfei des obersten Heerführers abgebildet war, empfangen worden wären, bevor sie nach Hause zu Frau und Kind entlassen wurden.

All das fand nicht statt. Stattdessen saß nun ein Beamter der Heeresverwaltung in dem prächtigen Bau gegenüber der Postsparkasse, neben der Urania – also der Macht des Geldes, das plötzlich nichts mehr wert war und dem Gebäude der Volksbildung und der Sternwarte – für keine der Drei bestand nun Interesse, angesichts der drückenden Alltagssorgen. Er muss sich in einer Leere empfunden haben. Zurückgeblieben waren nur er und die nicht ausgehändigten Urkunden, die Anerkennungen, die der entmachtete Kaiser seinen Soldaten gewährt hatte. Sie lagen auf seinem Schreibtisch, oder auf einem Nebentischchen geordnet nach Waffengattungen, Heereszweigen, Truppen bis in die Kompagnie verästelt, nach Alphabet und – ja was und? Was machen? Zustellen – aber von wem? Im Namen Seiner Majestät – das ging nicht mehr. Dero Majestät war kein Rechtsinstitut mehr, der Kaiser unterschieb zwar den Thronverzicht nicht (und seine Nachfolger bis heute nicht), entband seine Soldaten nicht ihres Treueeids aber im Schloss Eckartsau war er nicht mehr Anordnungsberechtigt. Sollte er die Urkunden daher vernichten, wegwerfen, so wie es keinen Kaiser Karl als obersten Feldherrn mehr gab, gab es dann keine Erinnerungen an ihn mit seinem Bildnis? Überdies waren die Kupfermünzen und das steife, rot-weiß-rote Band nicht mehr zu erzeugen und zu bekommen, die Friedenswirtschaft hatte andere Prioritäten: Nahrung, Heizung, Kleidung, Milch für die Kinder, Beherrschung der Tuberkulose.

Wegwerfen? Eine Erinnerungen an den Krieg, an die Opfer, die Heldentaten – es einfach so gehen lassen – alles wäre vergebens gewesen? Keine Kaiser, Könige und Fürsten, die sich nach dem Kriege beim Wiener Kongress zusammensetzen wie 1815, feiern, Ranküne spinnen, die Welt neu aufteilen – nein – Emporkömmlinge entschieden nun über die Welt  Revolutionäre, Arbeiterräte, oder demokratisch gewählte Politiker. Sogar Kirchenmänner wie Ignaz Seipl wollten Politiker sein. Das war eine neue Welt, eine Welt, in der die Kupfermünze am Schwarzmarkt beim Resselpark keine 10 Zigaretten wert war. 

Dem Beamten wurde es klar – und wenn es das Letzte wäre, das er im Dienst gemacht hätte – er würde die Urkunden zustellen, er würde den Heimgekehrten ihre Anerkennung nicht verwehren. Jedoch, da Keiner mehr verleihen konnte, ein österreichisches Heer nicht mehr bestand, selbst die Kaiserjäger aufgelöst, von den Uniformen die Epauletten runtergerissen worden waren und die Pferde der Offiziere im Kochtopf gelandet waren, musste ein Stempel her. 

Die Wortwahl war das Entscheidende: nicht die mangelnde Dienstauffassung verhinderte die Verleihung, nicht die Niederlage, nicht das Ende der Monarchie, nicht das Ende des Völkerkerkers, wie das Reich von manchen genannt wurde. Nicht die Treulosigkeit der Italiener, nicht das Versagen der Ungarn – nein, lediglich die Auflösung der Armee machte eine Verleihung unmöglich. Dafür konnte Wehrmann Berthold Scheer nichts. Ihm stand der Dank des Kaisers zu, er war berechtigt ihn zu empfangen.

So erhielt Berthold seine Urkunde und sie war ihm wichtig genug sie mit dem Wenigen, das ihm erlaubt wurde aus dem nationalsozialistisch gewordenen Österreich 1939 nach Israel mitzunehmen. Die Urkunde begleitete ihn durch den 2.  Weltkriege, den Staatsgründungskrieg Israels, er führte sie bei mehreren Übersiedlungen mit, passte auf sie auf und brachte sie 1952 in das befreite Österreich zurück. Er vererbte sie seinem Sohn, meinem Vater Kurt. Die Flucht, den Ausläufer des Weltkriegs im vorderen Orient, zwei Restaurants nächst Tel Avivs, den Staatsgründungskrieg – alles erlebte die Urkunde mit bis sie in der Heiligenstätterstraße vererbt, in der Hintzerstraße kurz zwischengelagert wurde, um letzten Endes mir in Favoriten 2019 von meiner Stiefmutter Friedl übergeben zu werden. Nun liegt sie mit dem Soldbuch Bertholds aus dem 1. Weltkrieg, den Kriegserinnerungen meines Vaters Kurt in der Lade meines Beistellschreibtischs, den ich vor 51 Jahren fleckig braun um 20 Schilling gekauft und auf dem Klopfbalkon des Hauses Hintzerstraße 9 mit Hilfe einer Schleifmaschine und dunkler Holzbeize renoviert habe. Der Tisch steht heute im Wohnzimmer mit Küche meiner für den ganzjährigen Gebrauch renovierten Badehütte in Hütteldorf.

So weise, so einfach den Regeln des Beamtentums entsprechend hat der mir Unbekannte gehandelt, nicht wissend, aber vertrauend, dass korrekter Umgang mit dem Anvertrauten sich letzten Endes immer für die Erreichung des eigenen Lebensziels lohnt, mehr noch für die, die dem Staat vertrauen, der von solchen Menschen verwaltet wird.

Als Spartakus seinen Lehrer vor der letzten, vernichtenden Schlacht fragt, warum er trotz all seiner Siege nie mit sich zufrieden war, legt Arthur Koestler dem Lehrer die Worte in den Mund: „Weil man nur den Dienst ausfüllen kann. Selbstgesetzte Ziele verfehlt man. Denn das Ziel bewegt sich mit einem. Erreicht man sogar mehr als man erwartet, ist das Ziel noch immer gleich weit entfernt, unerreichbar, wie der Hut des Zirkusclowns, den er mit seinem zu großen Schuh vor sich herstößt, ihm nachlaufend, beim Versuch ihn aufzuheben sich bückend erreicht er den Hut nie. Er ist immer gleich weit weg und die Zuschauer lachen über das vermeintliche Missgeschick.